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Gewalt im Autismus-Spektrum

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Ein andere Gewaltprävention

Beitrag von Michael Schmitz

Herausforderndes Verhalten ist auch im Bereich Autismus ein häufiges Thema. Aber was bedeutet „Herausforderndes Verhalten?“

Für manche Menschen ist es herausfordernd, wenn einem der Mensch gegenüber nicht in die Augen schaut, einen Kopfhörer trägt oder Ohrstöpsel verwendet. An Sonnenbrillen und Kopfhörer – klassische Mittel der Reizreduzierung - haben sich die meisten Menschen gewöhnt. Sei es bei greller Sonne oder zum Hören von stundenlangen Hörbüchern. Und wenn das Gegenüber einem nicht in die Augen schaut?

Schon stellt sich das Gefühl der Unaufrichtigkeit ein, „der hat was zu verbergen“, „der soll mich offen und ehrlich anschauen“. Dass das „nicht in die Augen schauen“ eine Reizreduzierung ist, weil Menschen im Spektrum durch den Blick in die Augen zu viele Informationen erhalten, verwirrt sind und sich z.B. auf ein Gespräch nicht mehr konzentrieren können, kommt selten in den Sinn. Es ist eine „Herausforderung“ mit Menschen zu sprechen, die einem nicht in die Augen schauen oder sich zur Begrüßung am liebsten umdrehen (wie beim Sohn von Gee Vero, autistische Aktivistin und Autorin. Z.B. (M)ein autistisches Kind kommt in die Kita, 2023).

Herausforderndes Verhalten kann extremer sein: Letzte Woche kommt ein sechsjähriger Junge in mein Büro, geht auf mich zu und haut mir mit der Hand ins Gesicht. Einfach so, ohne Vorankündigung. Im Gesicht des Jungen kann ich erkennen, dass er nicht böse oder aggressiv ist. Es ist seine Umgangsform, es ist seine Art „Guten Tag“ zu sagen. Das macht er auch mit Passanten auf der Straße. Wenn er mit seiner Mutter unterwegs ist, muss sie die Straßenseite wechseln, wenn jemand entgegenkommt. Das ist Herausforderndes Verhalten.

Ist der Junge böse, will er mich ärgern, übt er Gewalt aus? Der Schlag ins Gesicht schmerzt weniger, als dass er mich überrascht hat. Im folgenden Gespräch mit der Mutter kommt er immer wieder zu mir und ich bekomme ihn an den Armen zu fassen, damit er mich nicht hauen kann. Es macht uns beiden Spaß. Er lächelt dabei nicht, die Verhaltensweise wirkt für ihn nebensächlich.

Autist*innen wollen uns nicht ärgern. Sie nehmen die Welt anders wahr und reagieren auf Umweltreize (dazu gehören auch Menschen) anders, als Nichtautist*innen es gewohnt sind. Sie können ihre Umwelt nicht anders wahrnehmen, wir können nur verstehen, dass sie eine andere Umwelt benötigen bzw. wie wir dabei helfen können, eine autismussensiblere Umgebung zu gestalten.

Am Ende des Gesprächs hebe ich den Kleinen in die Luft – und er lächelt mich an. Er haut nicht. Ich habe ihn nach dem Hauen nicht böse ermahnt, ihn angeschrien oder zur Seite gestoßen. Ehrlicherweise wäre das meine natürliche Reaktion gewesen. Aber so lächelt er mich am Ende des Gesprächs an.

Eine andere Geschichte: Ein Junge, acht Jahre alt, ist auf einem Klassenausflug von den vielen Eindrücken und der ungewohnten Situation und Umgebung völlig überfordert. Viele wissen, dass er Unbekanntes kaum ertragen kann, trotzdem kommt er auf den Klassenausflug mit, was erst einmal gut ist. Dann fordert die Lehrerin ihn auf, vom Bordstein zurückzuweichen, auf dem er gerade balanciert, um sich zu beruhigen. Die Situation eskaliert, er tritt der Lehrerin in den Bauch. Sofort muss er den Ausflug beenden, eine Schulbegleiterin ist dabei und kann ihn wegbringen. In der Folge wird er der Schule verwiesen, er muss sich zusammen mit seinen Eltern eine neue Schule suchen. Bei Gesprächen mit dem Jugendamt, den Eltern und mit verschiedenen Fachkräften, die an dem Fall beteiligt sind, sitzt er dabei, liest zwei Stunden ein Buch, gänzlich entspannt wirkend. Ja, das, was er getan hat – körperlicher Angriff auf eine Lehrkraft – führt an der Schule zum Ausschluss. Verständlich.

Warum ist es aber zu der Situation gekommen? Er war in seiner Wahrnehmung völlig überfordert, hätte eine ruhige Ecke und keine Ansprache benötigt. Er hat mit Herausforderndem Verhalten reagiert, er ist „gewalttätig“ geworden. War er „böse“? Wollte er jemanden verletzen? Sicherlich nicht. Er ist üblicherweise ein ruhiger und entspannter Junge mit zahlreichen Interessen. Er ist „ausgetickt“, hatte einen sog. Meltdown, hatte sich nicht mehr unter Kontrolle.

Gewaltprävention hätte hier bedeutet: Ihn auf die zu erwartende Situation des Schulausflugs ausreichend
vorzubereiten und die Situation vorhersehbar zu machen (Vermeulen: Das prädiktive Gehirn, 2024), seine Überlastung zu erkennen, ihn aus der überlastenden Situation zu entfernen, so die Umweltreize zu reduzieren. Eine Herausforderung auf einer ganz anderen Ebene als auf jener, auf der „Gewaltprävention“ üblicherweise angesiedelt und verstanden wird. Möglicherweise hätte der Junge dann nicht die Schule wechseln müssen.

Der Umgang mit Kindern aus dem autistischen Spektrum ist oft eine Herausforderung. Sowohl für die Kinder als auch für die Gesellschaft. Wir – das heißt insbesondere Erwachsene – müssen andere Blickwinkel einnehmen und sensibler für Umweltreize sein. Dann können Menschen aus dem Autismus-Spektrum engagierte Mitglieder der Gesellschaft werden.

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